Interview: „Ein guter Orientierungssinn ist hilfreich”

In unserer „Meet the Reggies” Reihe stellen wir Euch die klugen Köpfe hinter dem RegTech Center vor. Heute: Kevin Demir, Senior Associate bei Taxdoo. Der Steuer- und Digitalexperte war mehrere Jahre in der Steuerberatung bei EY tätig. In unserer „Meet the Reggies” Reihe erzählt er, wie er bei der Übersetzung von Rechtsnormen in technologische Lösungen den Überblick behält und dabei die höchsten Bäume erklimmt.
Stephan Mittelhäuser
Stephan Mittelhäuser
  • 5 min. Lesezeit
Interview: „Ein guter Orientierungssinn ist hilfreich”

Kevin, seit wann bist Du bei Taxdoo und warum hast Du Dich für die Herausforderung im RegTech Center entschieden? 

Ich bin seit Oktober 2021 bei Taxdoo. Nach dem Abschluss meines Wirtschaftsstudiums und der Ausbildung zum Steuerfachangestellten fiel mir im Tagesgeschäft der Steuerberatung auf, dass es sehr viele repetitive und automatisierbare Aufgaben gibt. In dieser Zeit machte ich mir viele Gedanken darüber, wie ich meine technische Affinität dazu nutzen kann, meinen Alltag in der Steuerberatung effizienter zu gestalten. Sich einem Team wie dem RegTech Center anzuschließen, war da einfach der nächste logische Schritt. Seitdem gehört es zu meinen zentralen Aufgaben, standardisierbare Compliance in automatisierbare Lösungen zu verwandeln.

Du bist im RegTech Team der „Entscheidungsbaum-Spezialist“. Was verbirgt sich hinter diesem Titel? 

(lacht) In der Tat hat sich der Name für mich etabliert. Eine wichtige Aufgabe des RegTech Teams besteht darin, Rechtsnormen in Technologie zu übersetzen. Das machen wir mithilfe von Entscheidungsbäumen. Jeder Knotenpunkt steht für ein Tatbestandsmerkmal einer Norm, bis wir an der Spitze des Baumes zu einer Entscheidung kommen, wie das Recht im konkreten Fall anzuwenden ist. Fragen, die wir uns an den Knotenpunkten des Entscheidungsbaums für E-Commerce-Transaktionen stellen, sind zum Beispiel: „Hat der Verkauf auf einer elektronischen Schnittstelle stattgefunden?” oder „Ist der Käufer ein Unternehmer?”. Es gehört zu meinen zentralen Aufgaben, die Entscheidungsbäume, die das Kernstück unserer Umsatzsteuer-Engine bilden, zu pflegen und zu erweitern.

Welche speziellen Kenntnisse benötigst Du dafür?

Was die Arbeit definitiv erleichtert, ist ein fundiertes Wissen zur Umsatzsteuer, oder zumindest ein gutes Verständnis für die entsprechenden Gesetze, sowie ein gutes technisches Verständnis. Wer Rechtsnormen nicht versteht, kann diese nicht in einem grafischen Entscheidungsbaum darstellen. Und wer kein Verständnis davon hat, wie eine Software funktioniert oder was bei der Umsetzung technisch möglich ist, wird keinen Entscheidungsbaum entwickeln können, der sich in Code übersetzen lässt. Was ebenfalls hilfreich ist, ist ein guter Orientierungssinn. Sonst verliert man sich sehr schnell in diesen riesigen Bäumen (lacht).

Was sind Deine weiteren Aufgaben im RegTech Team?

Ich arbeite sehr viel an unserer Software-Lösung und an unserer technischen Logik. Dabei fungiere ich als Brücke und Single Point of Contact zwischen den Kollegen im RegTech Center sowie unseren Produktmanagern und dem Engineering Team. Ein großer Teil meines Arbeitsalltags besteht im Testen neuer oder bestehender Features. Das ist eine wichtige Aufgabe, um die Produktqualität bei Taxdoo zu gewährleisten.

Siehst Du Dich als Steuerexperte mit Programmiererkenntnissen oder als Programmierexperte mit Steuerkenntnissen?

Da ich Steuern von der Pike auf gelernt habe und ich mir die technischen Fähigkeiten erst später angeeignet habe, würde ich mich eher als Steuerexperte mit Programmierkenntnissen sehen. Ich komme nun mal aus der Tax und Accounting Welt. Programmieren und Softwareentwicklung waren erst meine zweite große Liebe. Natürlich ohne, dass die erste Liebe erloschen ist (lacht).

Zuletzt hast Du mit einem Taxdoo-Team an einem Forschungsprojekt des Zentrums für Digitalisierung des Steuerrechts der LMU (LMUDigiTax) teilgenommen. Worum ging es bei diesem Projekt?

Oh ja, das war ein spannendes Forschungsprojekt! Ziel des Projekts war die Prüfung der Digitalisierbarkeit und Digitaltauglichkeit von Rechtsnormen. Dies sollte am Beispiel der digitalen Umsetzung von § 34 EStG demonstriert werden. Konkret gefragt war eine Softwarelösung zur Prüfung außerordentlicher Einkünfte. Neben Taxdoo präsentierten unter anderem Vertreter mehrerer Big-Four-Gesellschaften sowie der DATEV ihre Ergebnisse vor Zuhörern aus dem Bundesfinanzministerium, dem Bundesjustizministerium sowie dem Bayerischen Landesamt für Steuern. Ich denke, dass alle Beteiligten, also Wirtschaft, Forschung und Verwaltung, von Projekten dieser Art profitieren.

Was denkst Du: In welche Richtung entwickelt sich in Zukunft das Anforderungsprofil Deiner Arbeit?

Ein reiner Steuerexperte wird es auch künftig nicht schaffen, Rechtsnormen in eine automatisierungsfähige Lösung zu übersetzen. Vermutlich werden Gesetzestexte noch sehr lange so kompliziert formuliert und verstrickt sein, dass auch ein Software-Engineer allein nicht in der Lage sein wird, diese Texte in eine technische Lösung zu übersetzen. Deshalb werden Personen, die sowohl eine technische Affinität als auch Kompetenz aus der Steuer- oder Rechtsberatung mitbringen, immer wichtiger.

Wie siehst Du die Entwicklung von Chatbots wie ChatGPT? Kann eine Software, die Fachaufsätze oder Gedichte verfasst, in naher Zukunft auch etwas zur Übersetzung von Gesetzestexten in Code beitragen? 

In diesem Bereich sehen wir seit einigen Jahren eine rasante Entwicklung. ChatGPT ist dabei nur eines der Highlights. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass KIs in naher Zukunft in der Lage sein werden, uns bei der Arbeit zu unterstützen, etwa bei der standardisierten Übersetzung von Gesetzen in eine für den Computer verständliche Sprache. Aber ich denke nicht, dass KIs in der Lage sein werden, Gesetzestexte in ihrer vollumfänglichen Komplexität umzusetzen. Unsere Gesetze sind voll von unbestimmten Rechtsbegriffen sowie Ermessens- und Interpretationsspielräumen. Dafür wird es immer Rechtsexperten brauchen.

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