Die Organschaft ist tot, lang lebe die Organschaft: Die umsatzsteuerliche Organschaft in Deutschland nach den Urteilen des EuGH

Die deutsche Regelung zur umsatzsteuerlichen Organschaft stand unmittelbar vor den Urteilen des EuGH (C-141/20 und C-269/20) vor dem Aus. Was in Luxemburg entschieden wurde und was Schneewittchen mit der Organschaft zu tun hat, erklären wir Euch in diesem Blogbeitrag.
Dr. Roger Gothmann
Dr. Roger Gothmann
  • 7 min. Lesezeit
Die Organschaft ist tot, lang lebe die Organschaft: Die umsatzsteuerliche Organschaft in Deutschland nach den Urteilen des EuGH

Wie sah die bisherige umsatzsteuerliche Regelung aus?

Extrawurst für Unternehmensgruppen

Die deutsche Regelung zur umsatzsteuerlichen Organschaft ist eine Vereinfachungsregel für Unternehmensgruppen. Normalerweise muss jeder Unternehmer Umsatzsteuer deklarieren und abführen. Vor allem große Unternehmen mit mehreren Tochter- und Enkelgesellschaften sowie Konzerne profitieren allerdings von einer umsatzsteuerlichen Sonderregel. 

Vereinfacht gesagt, muss anstelle jeder einzelnen Gesellschaft (Organgesellschaft) nur noch der Organträger für die gesamte Unternehmensgruppe (Organkreis) die umsatzsteuerliche Deklaration erledigen. Statt zahlreicher Umsatzsteuererklärungen also eine einzige für den gesamten Organkreis. Es ist also mehr als verständlich, warum viele Unternehmensgruppen große Fans der umsatzsteuerlichen Organschaft sind. 

Backe, Backe Organschaft

So beliebt die umsatzsteuerliche Organschaft ist, so tückisch sind die Voraussetzungen, um diese zu erfüllen. Passend zur Weihnachtszeit teilen wir mit Euch das Rezept, damit Eure umsatzsteuerliche Organschaft perfekt gelingt. Man nehme folgende Zutaten:

  • Einen Esslöffel Organträger (genau dosieren),
  • eine oder beliebig viele Organgesellschaften (je nach Geschmack),
  • mindestens 50% Beteiligungsverhältnis an der einzugliedernden Organgesellschaft (finanzielle Eingliederung),
  • einen großzügigen Schuss Durchgriffsmöglichkeit des Organträgers in die einzugliedernde Organgesellschaft (organisatorische Eingliederung) und
  • eine „kleine” Prise wirtschaftliche Eingliederung.

Exkurs: Die „kleine”, aber wesentliche Prise wirtschaftliche Eingliederung
Unabhängig von der EuGH-Entscheidung hat sich der BFH (v. 1.2.2022 – V R 23/21) vor Kurzem zur wirtschaftlichen Eingliederung bei der Organschaft geäußert. Häufig wurde diese Voraussetzung eher lapidar in der Beratung bejaht, weil die Organgesellschaften schon „irgendwas” in wirtschaftlicher Hinsicht austauschen. Ganz so einfach sah das der BFH aber nicht. „Irgendwas” reicht nicht aus, es muss schon „wesentlich” sein. 

Dieses Rezept sollte am besten streng befolgt werden, ansonsten kann es zu unangenehmen Magenverstimmungen mit der Finanzverwaltung kommen.

Nicht steuerbare Innenumsätze – die zarteste Versuchung, seit es Vorsteuerabzug gibt

Neben der angesprochenen Vereinfachung hinsichtlich der Deklaration der Umsatzsteuer (eine Umsatzsteuervoranmeldung statt viele) hatte die umsatzsteuerliche Organschaft noch einen weiteren Vorteil. Bei Vorliegen der Voraussetzungen, also der finanziellen, organisatorischen und wirtschaftlichen Eingliederung einer Organgesellschaft in einen Organkreis, gelten vor allem zwei Rechtsfolgen: 

  • Eine erste Konsequenz der umsatzsteuerlichen Organschaft ist die Aberkennung der Unternehmereigenschaft der eingegliederten Organgesellschaften, weil es hier an der Selbstständigkeit der Organgesellschaft mangelt – und ohne Selbstständigkeit ist man kein Unternehmer im umsatzsteuerlichen Sinne.
  • Die zweite Konsequenz der deutschen Regelung war, dass die Umsätze zwischen den Organgesellschaften untereinander sowie zwischen den Organgesellschaften und dem Organträger als nicht steuerbare Innenumsätze galten. Vor allem für Unternehmensgruppen mit Tochtergesellschaften, die vorsteuerschädliche Ausgangsumsätze an andere Unternehmensteile ausführten, war dies eine beliebte Gestaltungsmöglichkeit. Denn nicht steuerbare Innenumsätze sind keine vorsteuerschädlichen Ausgangsumsätze und versalzen somit nicht die Vorsteuerquote. 

Der Schuss in den Ofen: Das Auseinanderfallen der Organschaft

Eines der größten Probleme hinsichtlich der deutschen Organschaftsregelung ist jeher, dass es im Land der schriftlichen Anträge und Verwaltungsakte kein gesondertes Verfahren für die umsatzsteuerliche Organschaft gibt. Entweder liegen die Voraussetzungen für die Organschaft vor oder nicht. In der Praxis existieren daher oftmals unerkannte oder ungewollte umsatzsteuerliche Organschaften mit unschönen Folgen. 

Lag etwa fälschlicherweise keine Organschaft vor, wurden für vermeintliche Organschaften keine Umsatzsteuererklärungen sowie keine Umsatzsteuer abgeführt. Gleichzeitig hat der vermeintliche Organträger in dieser Konstellation zu viel Umsatzsteuer in der Vergangenheit gezahlt. Meist hat das dann ein großes Aufdröseln und Zuordnen der jeweiligen jahrelang falsch deklarierten Umsätze zur Folge. Ein großer Spaß für alle Beteiligten. 

Dieses Chaos hat auch die Generalanwältin in den genannten EuGH-Urteilen erkannt. Und mit Blick auf die hiesige langjährige deutsche Diskussion wie folgt beschrieben :

[Diese Regelung] erinnert an den vergifteten Apfel, den die böse Königin dem lieblichen Schneewittchen gab. Obwohl als Erleichterungsmaßnahme gedacht, ist die Mehrwertsteuergruppe zu einem Prüfungsschwerpunkt der deutschen Steuerbehörden geworden … [und] hat Anlass zu zahlreichen Gerichtsverfahren gegeben […], was zu einem bürokratischen Dschungel für Steuerzahler geführt hat, die oft ratlos sind, wenn es um die Frage geht, ob ihre vermeintliche Mehrwertsteuergruppe einer Prüfung standhalten wird.”

Exkurs: Check-The-Box-Organschaft
Unerkannte oder ungewollte Organschaften bedeuten bis heute enorm viel Arbeit für Steuerberater und Finanzverwaltung. Oftmals kommt dabei allerdings nicht viel mehr Umsatzsteuermehrergebnis heraus. Entsprechend gab es in jüngster Vergangenheit erste Bestrebungen, die gesamten Voraussetzungen für die umsatzsteuerliche Organschaft über Bord zu werfen und stattdessen den Steuerpflichtigen die Wahlmöglichkeit zu geben, ob sie eine Organschaft sein möchten und welche Gesellschaften diese dann umfassen soll. Das Ganze war allerdings zu einfach und teilweise auch fraglich, ob mit EU-Recht vereinbar. Deshalb haben es diese Vorschläge bisher nicht aus den Lobbybüros geschafft. Schade eigentlich.

Deutsche Organschaft verstößt gegen Unionsrecht

Mit seinen Urteilen hat der EuGH in den zusammengefassten Rechtssachen C-141/20 und C-269/20 die deutsche Regelung zur umsatzsteuerlichen Organschaft für teilweise unionsrechtswidrig erklärt. Hintergrund waren die Vorlagefragen durch den BFH in zwei Verfahren. Konkret hat sich der EuGH zu folgenden Themen geäußert:

  • Wer ist eigentlich der Steuerpflichtige im Falle einer Organschaft? Der Organträger oder die Organschaft (also der Organkreis)?
  • Reicht bei der finanziellen Eingliederung eine Mehrheitsbeteiligung oder muss auch eine Mehrheit der Stimmrechte vorliegen?
  • Gibt es so etwas wie nicht steuerbare Innenumsätze zwischen den Mitgliedern einer Organschaft?

Ende gut, alles gut: Organträger bleibt Steuerpflichtiger

Ein großes Aufatmen ging durch die grauen Flure der Finanzverwaltung, als klar wurde, dass der Organträger weiterhin als einziger Steuerpflichtiger angesehen werden kann. Dies sah die Generalanwältin im Verfahren noch etwas anders und brachte vielmehr den Organkreis als einzigen Steuerpflichtigen ins Spiel. 

Das wäre insofern sehr brisant gewesen, weil dann die Finanzverwaltung nicht nur jahrelang Umsatzsteuer vom falschen Steuerpflichtigen (Organträger) verlangt hätte, sondern die Existenz des Organkreises als eigentlichen Steuerpflichtigen verkannt hätte. Diese Auffassung teilte der EuGH allerdings nicht und überlässt es vielmehr den EU-Staaten, wen diese als Steuerpflichtigen letztlich ansehen wollen. 

Keine Stimmrechtsmehrheit notwendig bei bereits bestehender Mehrheitsbeteiligung

Der erste Knaller in dieser Entscheidung, der vermeintlich im restlichen Verfahren etwas untergeht, betrifft die finanzielle Eingliederungsvoraussetzung. Gefragt war hier, ob der Organträger neben seiner Mehrheitsbeteiligung an der jeweiligen Organgesellschaft zusätzlich noch über eine Stimmrechtsmehrheit verfügen muss. Dies hat der EuGH klar abgelehnt und bei der finanziellen Eingliederung lediglich auf die Mehrheitsbeteiligung abgestellt. 

Das letzte Weihnachten mit nicht steuerbaren Innenumsätzen?

Sofern man die ersten Fragen betrachtet, könnte man meinen, dass sich hinsichtlich der umsatzsteuerlichen Organschaft nicht wirklich etwas ändern wird. Allerdings hebt sich der EuGH den zweiten Knaller für den Schluss seiner Entscheidung auf. In Deutschland galten Organgesellschaften bisher innerhalb der Organschaft als keine Unternehmer, weil diese aufgrund der Eingliederungsvoraussetzungen nicht selbstständig sind. Genau dieses Kriterium sieht der EuGH allerdings anders. Somit sind Organgesellschaften also regelmäßig Unternehmer. 

Was bedeutet das nun für die nicht steuerbaren Innenumsätze innerhalb der Organschaft? In Deutschland wurden diese ja gerade deshalb angenommen, weil Organgesellschaften keine Unternehmer innerhalb der Organschaft sind.

Kurz gesagt, der EuGH sieht hier keine nicht steuerbaren Innenumsätze, weil er dieses Konzept nicht kennt. Wenn Unternehmer – also Organträger und nun auch die Organgesellschaft  – etwas im umsatzsteuerlichen Sinne austauschen, ist das steuerbar. 

Es stellt sich also die Frage, ob die bestehenden Organschaften in den vergangenen Jahren zu wenig Umsatzsteuer an den Fiskus abgeführt haben. Genauso könnte die Gestaltungsmöglichkeit bei der Vorsteuerquotenoptimierung obsolet sein. 

Fazit 

Der EuGH hat für einige Unruhe gesorgt – bei Unternehmensgruppen, Steuerberatern und der Finanzverwaltung. Kein Wunder, denn etwa 10% der deutschen Umsatzsteuer werden über Organschaften abgewickelt. Entsprechend besorgniserregend sind jegliche Äußerungen, die bestehende Verwaltungs- und Unternehmensprozesse bis in die Grundfesten erschüttern. 

Der große Knall blieb vermeintlich aus, weil man sich auf die bloße Stellung des Steuerpflichtigen beschränkte. Gleichzeitig könnte Weihnachten 2022 das letzte Weihnachten mit nicht steuerbaren Innenumsätzen sein. Gerade für Steuerberater könnte das EuGH-Urteil ein vorweggenommenes Weihnachtsgeschenk sein, da viele Mandanten sicherlich nun großen Beratungsbedarf haben, was das EuGH-Urteil für deren Rahmenkonstruktionen bedeutet. 

Vielleicht sollte das EuGH-Urteil aber auch endlich zum Anlass genommen werden, die Handhabung und Festlegung von umsatzsteuerlichen Organschaften grundlegend zu überdenken. 

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