Kann und wird die EU den Aufstieg von Temu stoppen?

Die EU will Temu jetzt ausbremsen, weil sich der Tech-Gigant nicht an alle Regeln hält. Das könnte aus steuerlicher Sicht vielleicht stimmen, wie ich der Deutschen Welle und dem Focus erläutert habe – es ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die EU ist selbst nicht ganz unschuldig an der Situation.
Dr. Roger Gothmann
Dr. Roger Gothmann
  • 4min. Lesezeit
Kann und wird die EU den Aufstieg von Temu stoppen?

Vor wenigen Tagen durfte ich der Deutschen Welle (DW) ein Interview zu Temu geben, welches heute dort digital und zeitgleich im Focus erschienen ist. Dabei stand natürlich die Frage im Vordergrund: Wie läuft das im E-Commerce mit der Umsatzsteuer und den Zöllen bei Temu?

Alexander Graf kommt in beiden Medien ebenfalls zu Wort. Alexander ist der deutsche E-Commerce-Flüsterer und hatte im Juni 2024 auf dem Taxdoo Innovation Summit den Teilnehmern – über 100 Steuerkanzleien mit dem Fokus E-Commerce – verdeutlicht, was Temu, Shein und Co. vom bisher bekannten Marktplatzhandel unterscheidet: angefangen von der totalen Gamification bis hin zu Preisen, bei denen selbst Aldi die weiße Fahne hissen würde.

Ihr findet hier beide Artikel:

Undifferenzierte Headlines versus meine Botschaft

Zuerst sei gesagt, dass ich kein Fan der Headlines beider Artikel bin: Kann die EU den Aufstieg von Temu noch stoppen?

Warum?

Wenn ein Unternehmen wie Temu so viel Zuspruch bekommt, dann ist es innovativ und es arbeiten dort mit Sicherheit Menschen, die Passion haben und bold sind, weil sie die Dinge anders als alle anderen bisher angehen. Das ist wahre Innovation und davor habe ich größten Respekt. Dahinter steckt dann auch die viel zitierte Schöpferische Zerstörung von Jospeh Schumpeter – dem österreichischen Jahrhundertökonomen – deren Kehrseite z.B. unsere trägen und übersatten deutschen Autobauer gerade erfahren.

Daher sollte der Staat niemals die eigenen Unternehmen vor ausländischer Konkurrenz schützen. Das Ganze hat unzählige Nachteile: fehlender Innovationsdruck, höhere Preise für die Konsumenten, dadurch Anziehen der Inflation, …

Meine Botschaft ist eine andere und kommt in den beiden Artikel naturgemäß zu kurz.

Technologie und Innovation brauchen ein Level Playing Field

…. oder anders ausgedrückt: gleiche Regeln und Umsetzung für alle!

Wir leben innerhalb der Europäischen Union in einem der am stärksten regulierten Wirtschaftsräume der Welt. Das ist zunächst eine wertneutrale Feststellung und ich will damit auf keinen Fall in den Singsang derer einstimmen, die den Staat und dessen Organe so weit wie möglich zurückschneiden wollen, denn jedes Gesetz und jede Regel hat immer einen gesellschaftlichen Ursprung. Aber diese Diskussion führe ich gerne persönlich mit euch. Hier geht es um etwas anderes – etwas sehr Konkretes.

Wenn man komplexe Regeln – und vor allem Steuergesetze – schafft, dann muss man auch dafür sorgen, dass diese für alle Marktteilnehmer gelten und dass diese bei allen Marktteilnehmern auch durchgesetzt werden.

Konkretes (Temu-)Beispiel!

Seit 2019 muss jeder (!) Marktplatz jede (!) Transaktion, die entweder in Deutschland beginnt und/oder endet, aufzeichnen und diese auf Verlangen den Finanzbehörden vorlegen.

Hier das Gesetz im Wortlaut:

§ 22f Besondere Pflichten für Betreiber einer elektronischen Schnittstelle (= Online-Marktplatz)

(1) In den Fällen des § 25e Absatz 1 (= Haftung des Marktplatzes für nicht abgeführte Umsatzsteuer) hat der Betreiber (= OnlineMarktplatz) für Lieferungen eines Unternehmers, bei denen die Beförderung oder Versendung im Inland beginnt oder endet, Folgendes aufzuzeichnen:

  1. den vollständigen Namen und die vollständige Anschrift des liefernden Unternehmers,
  2. die elektronische Adresse oder Website des liefernden Unternehmers,
  3. die dem liefernden Unternehmer vom Bundeszentralamt für Steuern nach § 27a erteilte Umsatzsteuer-Identifikationsnummer,
  4. soweit bekannt, die dem liefernden Unternehmer von dem nach § 21 der Abgabenordnung zuständigen Finanzamt erteilte Steuernummer,
  5. soweit bekannt, die Bankverbindung oder Nummer des virtuellen Kontos des Lieferers,
  6. den Ort des Beginns der Beförderung oder Versendung sowie den Bestimmungsort,
  7. den Zeitpunkt und die Höhe des Umsatzes,
  8. eine Beschreibung der Gegenstände und
  9. soweit bekannt, die Bestellnummer oder die eindeutige Transaktionsnummer.

Während nun Betriebsprüfer deutsche Onlinehändler komplett auseinander nehmen (können), sind Händler auf Temu aktuell faktisch narrenfrei. Die Möglichkeit der Finanzverwaltung, sämtliche Transaktionsdaten bei Temu, Shein und Co. anzufragen und strukturiert auszuwerten, besteht bereits länger (seit 2019), als es diese Marktplätze aus der VR China überhaupt gibt.

Dennoch ist die Bilanz dieses Gesetzes mehr als ernüchternd. Ganze 1.640 Euro und 50 Cent hat der deutsche Staat im Rahmen eines einzigen Haftungsfalles vereinnahmt.

Auch das ist eine Form der Bürokratie: sinnvolle Gesetze nicht zu vollziehen

Wir haben im E-Commerce daher faktisch ein Vollzugsdefizit und ich meine das noch nicht einmal plakativ, wenn ich sage, dass bestimmte Geschäftsmodelle deutschen Finanzämtern um Lichtjahre voraus sind.

Hier müssen wir ran. Wir brauchen dafür eine ganz neue Generation an Betriebsprüfern und Experten aufseiten der Finanzverwaltung. Nicht mehr das Auswendiglernen von Gesetzen und Erlassen darf im Vordergrund stehen – ich kam mir während meines dreijährigen Steuerrechtsstudiums oft wie ein kleiner Junge vor, der immer brav seine auswendig gelernten Gedichte aufsagen musste – sondern die effiziente und gerechte Vollziehung der Steuergesetze – mittels Technologie und gesundem Menschenverstand.

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