Steuergerechtigkeit? Warum Betrugsmodelle im Steuerrecht über Jahrzehnte funktionieren und überleben können.

Für die heutige Printausgabe der WELT durfte ich einen Gastartikel zu einem Thema schreiben, das mich seit dem Beginn meiner Karriere bewegt: Steuergerechtigkeit. Ihr findet diesen Artikel auch online (ohne Bezahlschranke)
In diesem Artikel beginne ich mit einer Begebenheit, die mich sehr geprägt hat. Sie handelt von meinem damaligen Umsatzsteuerdozenten, den ich menschlich und fachlich sehr schätzte und ohne den es Taxdoo wohl nicht gegeben hätte.
Gleich zu Beginn einer meiner ersten Unterrichtsstunden im Bereich Umsatzsteuer erklärte uns dieser Dozent das Prinzip Vorsteuer anhand eines der größten finanziellen Betrugsmodelle, das die Staatshaushalte der EU seit Jahren um bis zu 60 Milliarden Euro jährlich belastet: Umsatzsteuer-Karussellbetrug.
Dafür braucht man eigentlich nicht viel mehr als ein Notebook, ein Textprogramm und damit erstellte Rechnungen über Leistungen, die es gar nicht gibt. Diese in Rechnung gestellte Umsatzsteuer lässt man sich anschließend erstatten und verschwindet nach einer gewissen Zeit unter dem Radar. Wenn alle Beteiligten sich idealerweise noch über mehrere EU-Staaten oder Bundesländer verteilen, gestaltet sich der Austausch zwischen den betroffenen Finanzämtern so langwierig, dass man dieses Karussell ruhig ein paar Mal drehen kann, bis einem die Finanzbeamten auf die Schliche kommen.
Steuergerechtigkeit gesetzlich verankert
Das war für mich als junger Finanzbeamter frustrierend, denn eigentlich sind die Finanzbehörden genau dazu da, um einen derartig systemischen Betrug aufzudecken und zu vermeiden. Das ist sogar in der Abgabenordnung – quasi dem Grundgesetz der Finanzverwaltung – verankert.
§ 85 AO: Die Finanzbehörden haben die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben. Insbesondere haben sie sicherzustellen, dass Steuern nicht verkürzt, zu Unrecht erhoben oder Steuererstattungen und Steuervergütungen nicht zu Unrecht gewährt oder versagt werden.
Fehlender politischer Wille
Nimmt man die jährlich 60 Milliarden Euro aus den Karussellgeschäften, die 36 Milliarden aus Cum-Ex und noch viele weitere Milliarden aus kleinen und großen Steuer-Gaunereien, dann wird schnell klar, welche Rendite jeder Cent, den man in die Befähigung und Ausstattung der Finanzämter stecken würde, dem Gemeinwohl bringen könnte.
Einzig: Es fehlt dazu der politische Wille.
Fall Ihr das ähnlich – oder auch ganz anders – seht, würde mich eure Meinung hier in den Kommentaren oder auf LinkedIn sehr interessieren. Vielleicht habt ihr vergleichbare – oder ganz andere – Erfahrungen, Anekdoten oder Beispiele.
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Susanne Ostermeyer
Hallo Herr Dr. Gothmann,
den Artikel in der Welt habe ich mit Interesse gelesen. Für mich stellt sich die Frage, was haben Sie konkret mit Ihrem Wissen in dieser Sache unternommen? Sind Herr Lindner und alle anderen Finanzminister seit den 2000er Jahren informiert? Danke für eine Rückmeldung.
Mit freundlichen Grüßen
Susanne Ostermeyer
Dr. Roger Gothmann
Liebe Frau Ostermeyer,
eine berechtigte Frage. Danke dafür!
Aktuell ist es (leider) häufig so, dass die Politik nicht selten erst dann handelt, wenn hinreichend öffentlicher Druck zustande kommt. Daran arbeite ich seit Jahren, auch wenn sich das kurz- und mittelfristig wie ein Kampf gegen Windmühlen anfühlt.
Ich habe dem zuständigen Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) bereits mehrfach – auch öffentlich – meine Expertise kostenfrei angeboten. Leider schottet sich diese so zentrale Behörde fast vollständig von der Außenwelt ab, da man dort Beeinflussung fürchtet. Insofern sind Sie herzlich eingeladen, mir zu helfen. Platzieren Sie dieses Anliegen z.B. bei Ihrem Bundestagsabgeordneten. Ohne diesen Handlungsdruck wird sich leider nichts ändern.
Viele Grüße
Roger Gothmann