Entscheidungen unter Risiko: ein persönlicher Einblick und Dank an zwei Giganten

Die langjährigen Leser dieses Blogs wissen, dass es an dieser Stelle ungefähr einmal im Jahr einen Blick in das Seelenleben des Autors gibt. Für 2024 ist dieser Tag heute – bzw. er war es schon gestern.

Als mein Mitgründer Christian und ich uns gestern Abend fast zeitgleich gegenseitig die Nachricht zum Tode des Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaften von 2002 – Daniel Kahneman – schickten, fühlte sich das an, als ob ein langjähriger Wegbegleiter nicht mehr da wäre.
Daniel Kahneman hat zusammen mit seinem Freund Amos Tversky, der ein ebenso brillanter Wissenschaftler war, den Wirtschaftswissenschaften einen völlig neuen Blickwinkel gegeben, weil sie die Schwachstelle aller ökonomischen Modelle identifiziert hatten und diese Schwachstelle zugleich mit einer neuen Theorie greifbar machen konnten.
Schwachstelle? Welche Schwachstelle? Menschliches Urteilsvermögen!
Der Homo Oeconomicus: Es gibt ihn noch nicht einmal unter Steuerrechtlern.
Mit ihrem legendären Paper Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk in der ebenso legendären ECONOMETRICA im März 1979 – ja, daher das Bild zu diesem Blogpost! – leisteten sie Pionierarbeit bei einer zentralen Frage.
Warum scheitern ökonomische Modelle so regelmäßig an der Wirklichkeit? Weil es den Homo Oeconomicus – das vollkommen rationale Individuum, das bis dahin und weit in die 2000er Jahre hinein die Grundannahme aller ökonomischer Modelle war – nicht gibt. Welche Verhaltensmuster hindern uns denn aber daran, rationale Entscheidungen zu treffen?
Es gibt z.B. das beobachtbare Phänomen der Verlustaversion. Anders ausgedrückt: Verluste schmerzen uns Menschen mindestens doppelt so stark, wie gleich große Gewinne uns Freude bereiten. Damit kann man erklären, warum Menschen z.B. an der Börse bei Kursverlusten immer größere Risiken eingehen, um die anfänglichen Verluste wieder aufzuholen. Irrational, aber modelltheoretisch erklärbar und im Rahmen unzähliger Laborexperimente – oftmals mit Studenten 😉 – erwiesen.
Verlustaversion erklärt auch, warum wir uns mindestens doppelt so stark anstrengen, um Steuern zu sparen (also, diese gefühlten Verluste zu vermeiden), obwohl dieselbe Energie viel besser darin investiert wäre – es rational wäre – das eigene Einkommen zu erhöhen.
Kahneman & Tversky: Brückenbauer
Man muss sich das einmal vor Augen führen. Bis weit in die 1970er-Jahre waren die Wirtschaftswissenschaften von wahnsinnig schlauen Menschen geprägt, die versuchten, die komplexesten mathematischen Modelle zu konzipieren, um die Realität zu erklären.
Dann kamen 1979 die beiden Psychologen Kahneman & Tversky und zertrümmerten regelrecht in einem Artikel in DEM ökonomischem Leitmedium – ECONOMETRICA – viele bis dahin unantastbare Grundannahmen. Das konnten sie nur, weil sie eben auch die komplexen mathematischen Modelle durchdrungen hatten und sie mit menschlichen Verhaltensmustern verbinden konnten. Verhaltensmuster, die eben nicht immer vollkommen rational sind.

Wer das Ganze etwas leichter zugänglich und verdaulich nachvollziehen will, dem sei das Buch: Schnelles Denken, langsames Denken von Kahneman (2016) empfohlen.
Leider ist Amos Tversky bereits 1996 verstorben. Dabei ist aber jedem bewusst und klar, dass der Nobelpreis 2002, den Kahneman zusammen mit Vernon Smith erhalten hatte, posthum auch Amos Tversky galt. Tversky: der anfangs erst ein intellektueller Rivale für Kahneman war und später ein Freund – der irgendwann mehr Zeit mit Kahneman verbrachte als dessen Ehefrau.
Der persönliche Teil
Es mag kitschig klingen. Aber, als gestern die Nachricht vom Tode Kahnemans bekannt wurde, war ich zuerst traurig. Denn ich musste daran denken, wie viele Stunden, Wochen, Monate, … ich mich im Rahmen meines Studiums der VWL an der Uni Bonn und später im Rahmen meiner Promotion an der Uni Hamburg, in die Gedankenwelt und Modelle dieser beiden Giganten Tversky und Kahneman eingraben durfte. Ja, durfte!
Ich komme aus einem Elternhaus, in dem ich der erste war, der das Abitur abgelegt hat und der dann zunächst Steuerrecht studierte – zuerst mehr aus finanzieller Verlegenheit, weil es ein bezahltes Studium war.
Als ich dann neben meiner Tätigkeit für das Bundeszentralamt für Steuern in Bonn mein VWL-Studium begann, war das, als ob sich die Tür zu einer völlig neuen Welt geöffnet hatte. Das war aber auch zuerst eine Welt, in der ich mich kaum orientieren konnte, denn bereits in meinen ersten Semestern an der Uni standen mathematische Beweise auf dem Lehrplan – eine absolute Herausforderung für jemanden, der als Steuerrechtler unzählige Regeln/Normen einfach nur auswendig lernen musste.
Mehrfach stand ich davor, das Studium abzubrechen. Vorsorglich hatte ich meinen Eltern auch nichts von meinem akademischen Abenteuer erzählt. Für sie war ich der Finanzbeamte mit dem sicheren Job, quasi einem Sechser im Lotto. Die Wahrheit offenbarte ich ihnen dann erst Jahre später mit der Einladung zur Diplomfeier im Sommer 2010 auf der Hofgartenwiese in Bonn.
Brücken, Zeit zum Denken, Zuhören
Was ich aus dieser Zeit mitgenommen habe, und was mir gestern wieder sehr bewusst wurde, ist etwas, das ich auch meinen Kindern vermitteln will.
- Plappert vermeintlich kluge, aber häufig auch schnell-gedachte Dinge aus Podcasts, LinkedIn-Posts, … nicht einfach nach. Hinterfragt die Dinge. Nehmt Euch Zeit dafür; Ihr werdet daran wachsen.
- Seid besonders vorsichtig, wenn Argumente auf vermeintlichen Grundsätzen/Annahmen beruhen. Kaum etwas ist unverrückbar.
- Kennt Eure Quellen. Quellenstudium ist nicht nur im Steuerrecht das A und O. Geht dabei immer an den Kern (im FAUSTschen Sinne). Es lohnt sich. Ihr werdet auch dadurch viel schneller wachsen als die Nachplapperer um Euch herum.
- Schaut über den Tellerrand. Als Experte auf einem Gebiet lebt man bequem; aber man lebt auch mit Scheuklappen.
- Umgebt Euch mit Menschen, die Euch fordern, Euch widersprechen, denen Ihr aber dennoch – oder gerade deswegen – vertrauen könnt.
- Fangt ruhig mal mit dem Feuilleton in der Zeitung an; auch wenn Euch der Wirtschaftsteil mehr interessiert.
- Hört zu und hört hin.
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