Ähnliche Dimensionen wie Cum-Ex: Steuerhinterziehung im Onlinehandel und E-Commerce – aktuelle Zahlen und Fakten

Aktuelle Zahlen verdeutlichen: Steuerhinterziehung im E-Commerce hat Cum-Ex-Dimensionen erreicht. Die Finanzverwaltung hat über Jahre simpelste Risikosignale ignoriert. Konsequenzen? Lest selbst!
Dr. Roger Gothmann
Dr. Roger Gothmann
  • 5min. Lesezeit
Ähnliche Dimensionen wie Cum-Ex: Steuerhinterziehung im Onlinehandel und E-Commerce – aktuelle Zahlen und Fakten

Kürzlich hat der Rechnungshof von Berlin seinen Jahresbericht 2024 (ab Seite 236 wird es spannend) offengelegt. Darin gibt es spannende Einblicke in den E-Commerce und die Tatsache, dass Deutschland in der Vergangenheit mehrere Milliarden Umsatzsteuer von Onlinehändlern aus der VR China und anderen Drittstaaten nicht erhoben hat.

Mindestens 500 Millionen Euro pro Jahr hat alleine das Finanzamt Berlin-Neukölln, das für einen Großteil der nicht in der EU ansässigen E-Commerce-Unternehmen zuständig ist, bis Mitte 2021 nicht erhoben – wider besseres Wissens. Dadurch hat der deutsche Steuerzahler faktisch Amazon & Co. sowie den chinesischen E-Commerce subventioniert. Onlinehändler, die gutes Geld für Technologie und Steuerberater ausgeben, um steuerlich compliant zu sein, fragen sich zu recht, wie ernst wir in Deutschland das Thema Steuergerechtigkeit nehmen.

Steuerhinterziehung im E-Commerce erreichte Cum-Ex-Dimensionen

Rechnet man die 500 Millionen Euro pro Jahr auf die Boomjahre des E-Commerce von 2018 bis Anfang 2022 hoch, kommen da ein paar Milliarden Euro zusammen. Ein paar Milliarden Euro, die die deutsche Finanzverwaltung theoretisch noch erheben könnten, denn Steuerhinterziehung unterliegt hohen Verjährungsfristen von bis zu 15 Jahren.

Praktisch wird es nicht dazu kommen, da die Finanzverwaltung in Bezug auf personelle und technologische Ressourcen nicht dazu in der Lage ist, wie wir gleich sehen werden. Darüber hinaus fehlt das politische Momentum – der Wille.

Fangen wir vorne an: Wie kam es zu diesem Dilemma, das in einer Liga mit Cum-Ex spielt.

Einfachste Risikosignale wurden über Jahre ignoriert

Fast 60 Prozent der abgegebenen Umsatzsteuervoranmeldungen von ca. 100.000 Onlinehändlern (überwiegend aus der VR China) enthielten eine Zahllast in Höhe von 0 Euro. Niemand im Finanzamt hinterfragte das. Wie kann das sein?

Jedes mittelständische Unternehmen in Deutschland, das über mehrere Monate keine Umsätze meldet – oder sogar einen Vorsteuerüberhang – muss in der Regel mit den folgenden Maßnahmen des Finanzamtes rechnen:

  • schriftliche Nachfrage des Sachbearbeiters mit der Bitte um eine Begründung oder
  • Umsatzsteuer-Nachschau oder
  • Umsatzsteuer-Sonderprüfung.

Keines dieser Instrumente kam hier zum Einsatz. Es wunderte niemand im Finanzamt Berlin-Neukölln, dass über die Hälfte aller registrierten Onlinehändler aus der VR China keine Umsätze meldeten – sich aber auch steuerlich nicht deregistrieren ließen.

An dieser Stelle berichte ich einmal öffentlich über ein paar Begebenheiten.

Kann man bei euch auch nur 20 Prozent der eigentlichen Umsatzsteuer melden?

Als 2018 klar war, dass Deutschland 2019 die sogenannte Marktplatzhaftung einführen wird, meldeten sich bei uns zahlreiche E-Commerce-Agenturen aus China, die teilweise tausend oder gar zehntausend chinesische Onlinehändler betreuten und nun nach einer Umsatzsteuerlösung in Deutschland suchten.

Das Zustandekommen einer Zusammenarbeit scheiterte letztendlich immer an einer Frage:

Wir wollen nicht, dass ihr unsere Daten direkt über die Amazon-API bezieht. Können wir sie euch auch jeden Monat per CSV schicken, damit wir diese vorher noch bereinigen können?

(P.S.: Nur zur Klarstellung: Natürlich haben wir an dieser Stelle die Gespräche immer abgebrochen. Es hieß dann immer schnippisch: Es gibt genügend andere Lösungen, die Willens sind.)

Ich habe öffentlich darüber gesprochen und geschrieben, bis ich das Gefühl hatte, kaum noch über etwas anderes zu sprechen. Die Verantwortlichen in der Finanzverwaltung und der Politik hat das nicht interessiert.

Ich glaube, das liegt nicht am Willen der einzelnen Sachbearbeiter, Sachgebietsleiter, Vorsteher, … Es fehlt an Führung. Unsere Führungsstrukturen in der Finanzverwaltung werden zu 99 Prozent von Volljuristen geprägt. Das ist das Gegenteil von Diversität und es fördert einen latenten Konformismus mit bestehenden Regeln und Zuständen – und am Ende auch die bleierne Bürokratie in unserem Land #EndeRage.

Maximal ineffizienter Ressourceneinsatz in der Finanzverwaltung

Die folgenden Zeilen entstammen dem Jahresbericht des Rechnungshof von Berlin. Lest selbst!

Fast alle ausländischen Onlinehändler reichten dem Finanzamt Berlin-Neukölln den ausgefüllten und unterschriebenen Fragebogen zur steuerlichen Erfassung und ggf. bereits beigefügte Anlagen elektronisch per E-Mail ein. Sämtliche eingehenden Anträge auf steuerliche Erfassung wurden von der Poststelle des Finanzamts Neukölln ausgedruckt und in Papierform der Neuaufnahmestelle zur Verfügung gestellt. Zur Verwaltung der vorliegenden Neuaufnahmeanträge nutzte die Neuaufnahmestelle zunächst eine Datenbank. Darin dokumentierte sie bis zur Vergabe der Steuernummer die inhaltliche Vorklärung. Sämtliche Informationen aus den Fragebögen zur steuerlichen Erfassung hatten die Dienstkräfte dabei manuell in der Datenbank zu erfassen. Nach inhaltlicher Prüfung in der Neuaufnahmestelle wurde dann ein Steuerkonto neu aufgenommen. Die Daten aus der Datenbank hatten die Dienstkräfte ebenfalls manuell in das Steuerkonto zu übertragen. RHvB | Jahresbericht 2024 Seite 243 von 356 Aufgrund der hohen Anzahl an Anträgen auf steuerliche Erfassung und des hohen administrativen Aufwands durch den Ausdruck der Fragebögen und die manuellen Folgearbeiten nahm das Verfahren der Neuaufnahme eine lange Zeit in Anspruch und erforderte entsprechend hohen personellen Aufwand.

Jahresbericht 2024 Rechnungshof von Berlin (Seite 242)

Wir sprechen in einer oftmals elitären Steuer-Bubble vom Einsatz generativer KI im Steuerrecht. Dabei übersehen wir, dass die grundlegende steuerliche Infrastruktur – unsere Finanzverwaltung – noch weitgehend manuell und analog unterwegs ist.

Sie kann daher ihrem Kernauftrag nicht nachkommen. Dieser lautet wie folgt.

§ 85 AO: Die Finanzbehörden haben die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben. Insbesondere haben sie sicherzustellen, dass Steuern nicht verkürzt, zu Unrecht erhoben oder Steuererstattungen und Steuervergütungen nicht zu Unrecht gewährt oder versagt werden.

Wie sind eure Erfahrungen?

Welche Erfahrungen habt ihr in diesem Kontext gemacht? Sehe ich das Ganze zu schwarz? Kommentiert hier unter dem Blogpost oder auf LinkedIn.

8 Kommentare

    Vielen Dank für diesen Blogbeitrag. Bitte hartnäckig am Thema dranbleiben, bis es eine zufriedenstellende Lösung gibt!

    Lieber Herr Zwecker,

    es fühlt sich seit Jahren wie ein Kampf gegen Windmühlen und bornierte Ministerialräte an – aber ich bleibe dran. Versprochen!

    Herzliche Grüße
    Roger Gothmann

    Es ist so ein gigantischer Skandal. Eigentlich müsste das in jeder Zeitung stehen.

    Moin Andreas,

    ja, das ist es definitiv: ein riesen Skandal. Über 500 Millionen Euro PRO JAHR an Steuern, die nicht erhoben werden, obwohl die Finanzverwaltung und die Politik dieses Problem kennen. 500 Millionen pro Jahr, die Amazon und Co. und China faktisch als Zuschuss des deutschen Steuerzahlers zugutekommen.

    Über 500 Millionen Euro pro Jahr, die wir theoretisch rückwirkend erheben könnten, weil wir ganz klar über Steuerhinterziehung sprechen – es aber nicht tun, weil der Finanzverwaltung und der Politik der Wille dafür fehlt.

    Herzliche Grüße
    Roger Gothmann

    Vielen Dank für Deine sehr interessanten INsights, ich bin entsetzt, warum interessiert sich niemand dafür? Ich habe den Link an Bürgerbewegung Finanzwende weitergeleitet.

    Ich fühle mich extrem benachteiligt, somit hat mein Mitbewerber aus China einen Preisvorteil von 20 % zudem muss er sich nicht in vollem Umfang um Compliance-Themen wie Verpackungsmittelentsorgung, Altgeräte-Entsorgung, DSVO, GPSR, etc. kümmen. Macht einen Vorteil von 40% gegenüber einem heimischen Händler.

    Gleichzeitig werden jeden Abend in den Polit-Talkshows Scheindebatten geführt, da sehe ich ein Versagen von Politik (Finanzministerium) und Journalisten. Niemanden scheint das zu interessieren.

    Lieben Dank, Andi!

    Jeder Tropfen wird diesen dicken Stein höhlen.

    Es ist leider in der Politik so, dass sie oftmals erst dann handelt, wenn der Karren bereits komplett gegen die Wand gefahren ist.

    Ich gebe aber die Hoffnung nicht auf, dass von den vielen dieser kleinen Nadelstiche irgendwann einmal einer oder zwei oben ankommen.

    Viele Grüße
    Roger

    Ich als kleiner Händler werde jeden Tag mit neuen Compliance-Aufgaben zugeschüttet, während die Finanzverwaltung Anmeldungen noch händisch abtippt.
    OHNE WORTE

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