Is this reality or just fantasy? Die Lieferkettenfiktion im Umsatzsteuerrecht

Die Lieferkettenfiktion gehört seit dem 1.7.2021 zur umsatzsteuerlichen Realität im E-Commerce. Seitdem schuldet der Online-Marktplatz für bestimmte Lieferungen die Umsatzsteuer. Was sich dahinter verbirgt und warum dieses Konzept ab dem Jahr 2025 noch relevanter wird, erklären wir in diesem Blogbeitrag.
Dr. Roger Gothmann
Dr. Roger Gothmann
  • 7 min. Lesezeit
Is this reality or just fantasy? Die Lieferkettenfiktion im Umsatzsteuerrecht

Fakt oder Fiktion? Umsätze auf Onlinemarktplätzen

Neben der Einführung des One Stop Shop (OSS) zum 1.7.2021 wurde als weitere umsatzsteuerliche Vereinfachungsregelung im E-Commerce die sogenannte Lieferkettenfiktion eingeführt. Bevor wir auf die Besonderheiten der Lieferkettenfiktion eingehen, beleuchten wir zunächst, was auf dem Onlinemarktplatz geschieht. 

Wenn Ihr auf einem Onlinemarktplatz Waren an einen Endkunden verkauft, kommt zivilrechtlich natürlich nur ein Kaufvertrag zwischen Euch und dem Endkunden zustande. Der Marktplatz selbst wird kein Vertragspartner. Ohne Lieferkettenfiktion hätte der Marktplatz mangels Leistungserbringung umsatzsteuerlich nichts mit der fremden Lieferung zu tun.

Durch die Lieferkettenfiktion werden Onlinemarktplätze bei Lieferungen mit Drittlandsbezug Teil der Lieferkette. Und quasi fiktiv zwischen Onlinehändler und Endkunden geschaltet. Entsprechend erhält der Onlinemarktplatz eine Lieferung vom Onlinehändler und tätigt eine Lieferung an den Endkunden. Es bleibt natürlich bei einem Kaufpreis – und vor allem einer Warenbewegung. 

Bei der Lieferkettenfiktion werden Onlinemarktplätze quasi fiktiv zwischen Onlinehändler und Endkunden geschaltet.

Bei wem bei den Stichworten „zwei Lieferungen, aber nur eine Warenbewegung” die Alarmglocken angehen, der liegt nicht falsch. Die Lieferkettenfiktion ist nämlich ein Reihengeschäft – und zwar ein fiktives. Weil nur ein Kaufvertrag vorliegt (zwischen Onlinehändler und Endkunden), der nur eine Lieferung begründet. Da aber bei der Lieferkettenfiktion zwei Lieferungen fingiert werden, handelt es sich um ein fiktives Reihengeschäft. Wenn Ihr nicht genug von Reihengeschäften bekommen könnt, findet Ihr hier weitere Informationen.

Zwei fiktive Lieferungen, zweimal Umsatzsteuer?

Bei zwei fiktiven Lieferungen stellt sich die Frage, ob auch zweimal Umsatzsteuer anfällt. Das ist natürlich nicht der Fall! Es liegt ja nur ein Kaufvertrag vor, und der Kaufpreis wird nur einmal vom Endkunden bezahlt. Daher fällt auch nur einmal Umsatzsteuer an, nämlich bei der zweiten Lieferung vom Marktplatz an den Endkunden. Nur diese Lieferung soll besteuert werden – um sicherzustellen, dass der Marktplatz Steuerschuldner ist. 

Genau das ist der Hintergrund dieser Regelung: Statt hunderttausender Onlinehändler aus Drittstaaten, die täglich auf europäischen Onlinemarktplätzen Waren verkaufen und möglicherweise keine Umsatzsteuer abführen, soll von vornherein nur der Marktplatz Steuerschuldner sein. Der Grund: Dieser ist für ein deutsches Finanzamt leichter greifbar als ein Onlinehändler, der z.B. in der chinesischen Provinz Guangdong sitzt. Schließlich ist die erste Lieferung des Onlinehändlers an den Marktplatz immer steuerfrei.

Hintergrund – Situation vor Einführung der Lieferkettenfiktion zum 1.7.2021
In der Vergangenheit haben Onlinehändler aus Drittländern Onlinemarktplätze genutzt, um Zugang zum europäischen Markt zu erhalten. Vor allem Onlinehändler aus Fernost erzielten häufig einen Preis- und damit Wettbewerbsvorteil, indem sie Kleinsendungen zollfrei in die EU lieferten oder keine Umsatzsteuer abführten. Soweit Waren aus der EU versendet wurden, lagen aber in der EU steuerbare und steuerpflichtige Lieferungen vor – entweder mit Steuerpflicht im Lagerland oder mit Steuerpflicht im Bestimmungsland. Mit der Konsequenz, dass sich Drittlandshändler eigentlich in der EU umsatzsteuerlich hätten registrieren und Umsatzsteuer abführen müssen.

Lieferkettenfiktion betrifft Lieferungen mit Drittlandsbezug an Endkunden

Seit dem 1.7.2021 findet die Lieferkettenfiktion Anwendung bei zwei Konstellationen, die einen Drittlandsbezug haben. Beiden Konstellationen ist gemein, dass der Endkunde immer ein Empfänger nach § 3a Absatz 5 Satz 1 UStG (insbesondere Privatperson) ist und der Kaufvertrag auf einem Onlinemarktplatz zustande kommen muss. Liegen die nachfolgenden jeweiligen Voraussetzungen vor, werden dann zwei Lieferungen umsatzsteuerlich fingiert (fiktives Reihengeschäft). 

Eine Lieferung vom Lieferer an die elektronische Schnittstelle und eine von der elektronischen Schnittstelle an den Endkunden. Weil es sich hierbei um ein fingiertes Reihengeschäft handelt, kommt natürlich auch die Frage auf, welcher der beiden fingierten Lieferungen die bewegte Lieferung ist. Die bewegte Lieferung führt dann immer die elektronische Schnittstelle kraft Gesetzes an den Endkunden aus (§ 3 Abs. 6b UStG). Anders als bei herkömmlichen Reihengeschäften kann hier somit die bewegte Lieferung nicht beliebig verschoben werden. Grund hierfür ist der Sinn und Zweck der Regelung: Steuerschuldner soll immer der Marktplatz sein; und dafür soll dieser auch die bewegte Lieferung ausführen. 

1. Ware befindet sich bereits in der EU und Lieferung von einem im Drittland ansässigen Händler 

Die erste Konstellation betrifft erneut unseren oben genannten Händler aus der chinesischen Provinz Guangdong (oder jeden anderen im Drittland ansässigen Händler). Befindet sich die Ware bereits bei Ausführung der Lieferung in der EU, kommt die Lieferkettenfiktion nach § 3 Abs. 3a S. 1 UStG nur dann zur Anwendung, wenn der Onlinehändler im Drittland ansässig ist. 

  • 1. Lieferung (Onlinehändler an Onlinemarktplatz) ist steuerbar gem. § 3 Abs. 7 S. 2 Nr. 1 UStG, dort wo die Beförderung/Versendung beginnt, aber steuerfrei gem. § 4 Nr. 4c UStG, 
  • 2. Lieferung (Onlinemarktplatz an Endkunden). Je nachdem, ob die Ware grenzüberschreitend oder innerhalb eines Mitgliedstaates befördert oder versendet wird, ist der Ort der Lieferung entweder steuerbar im Bestimmungsland gem. § 3c Abs. 1 UStG (innergemeinschaftlicher Fernverkauf) bzw. im Falle einer lokalen Lieferung gem. § 3 Abs. 6 UStG dort, wo die Beförderung / Versendung beginnt. 

Exkurs: Ansässigkeit im Drittland
Ob ein Unternehmer im Drittland ansässig ist, bestimmt sich nach EU-Recht. Hierbei gibt es bestimmte Vorschriften, die eine Ansässigkeit in der EU begründen. Liegen diese Voraussetzungen dagegen nicht vor, ist der Unternehmer im Drittland ansässig. Ein Unternehmer ist nicht im Drittland ansässig, wenn sich der Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit (Art. 10 MwStVO) im Gemeinschaftsgebiet befindet oder er dort über eine feste Niederlassung (Art. 11 MwStVO), einen Wohnsitz (Art. 12 MwStVO) oder einen gewöhnlichen Aufenthaltsort (Art. 13 MwStVO) verfügt (vgl. FM Schleswig-Holstein v. 1.7.2022 –  VI 3510-S 7110-099)

2. Ware noch nicht in der EU und Sachwert unter 150 Euro

Die zweite Konstellation, bei der die Lieferkettenfiktion zur Anwendung kommt, betrifft Onlinehändler, die in der EU ansässig sind. Befindet sich nämlich die Ware bei der Ausführung der Lieferung noch im Drittland, d.h. muss diese erst in die EU eingeführt werden um zum Endkunden zu gelangen, kommt die Lieferkettenfiktion nur zur Anwendung, wenn der Sachwert der aus dem Drittlandsgebiet eingeführten Gegenständen höchstens 150 Euro beträgt (§ 3 Abs. 3a S. 2 UStG). 

  • 1. Lieferung (Onlinehändler an Onlinemarktplatz) ist steuerbar gem. § 3 Abs. 7 S. 2 Nr. 1 UStG und Einfuhr gem. § 5 Abs. 1 Nr. 7 UStG von der EUSt befreit
  • 2. Lieferung (Onlinemarktplatz an Endkunden) ist steuerbar und grundsätzlich steuerpflichtig gem. § 3c Abs. 3 S. 3 UStG im Bestimmungsland.

Exkurs: Was ist der „Sachwert”?
Der Begriff „Sachwert” ist weder in der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL) noch im UStG definiert. Tatsächlich findet sich der Begriff im Zollrecht, wonach es sich bei dem Sachwert um den Kaufpreis inklusive Transport- und Versicherungskosten handelt, sofern diese nicht gesondert in Rechnung gestellt werden.

Lieferkettenfiktion in der Zukunft

Im Rahmen der Initiative VAT in the Digital Age wurde die Ausweitung der Lieferkettenfiktion in den Richtlinienentwurf aufgenommen. Sofern der Richtlinienentwurf tatsächlich so verabschiedet wird, könnte ab dem 1.1.2025 die Lieferkettenfiktion auf nahezu alle relevanten Lieferungen, die auf Onlinemarktplätzen begründet werden, ausgeweitet werden. Darunter fallen auch innergemeinschaftliche Verbringungen, die aus in Anspruch genommenen Fulfillmentleistungen resultieren. Diese würden dann der Plattform, die die Fulfillmentleistungen anbietet, fiktiv zugerechnet. Damit sollten lokale Registrierungen für Onlinehändler weiter vermieden werden. 

Die angedachte Lieferkettenfiktion würde dann damit künftig nicht nur für Umsätze mit Drittlandsbezug gelten, sondern für nahezu alle Lieferungen, die über Onlinemarktplätze begründet werden. Und dies unabhängig von der Ansässigkeit des Unternehmers und dem Status des Leistungsempfängers.

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